Als die junge Hexe und ihr Hund das graue Haus im Wald erreichen, herrscht dort hektische Betriebsamkeit. Eine Vogelscheuche weist sie an, sich neben einen Feldstein zu hocken, der gegenüber der Haustür die Grenze zum dichten Wald markiert. Irgendwann eilt Mino an ihnen vorbei.
„Eine Jagd!“, jubelt er, „endlich wieder eine Jagd!“
„Bin ich zu spät?“, ruft Beffaná ihm noch hinterher, aber er ist da bereits verschwunden.
Auch Sami lässt sich anstecken. Seine Schwanzspitze zeigt in die Höhe, seine Ohren sind gespitzt, immer wieder bleckt er seine Zähne.
„Weißt du, was hier gespielt wird?“, fragt Beffaná.
„Eine Jagd!“, bellt Sami aufgeregt. „Das wird eine ganz besondere Nacht!“
„Aber was ist mit meiner Prüfung?“, fragt Beffaná ein wenig enttäuscht. Eigentlich ist es ja so: Niemand mag Prüfungen. Auch Beffaná nicht. Vor manchen Prüfungen in der Schule hat sie sogar richtig Muffensausen. Aber für eine Prüfung beim Krampus fühlt sie sich bereit. Sie hat in so kurzer Zeit schon so viel gelernt, zuletzt auch mithilfe von Mino. Natürlich ist sie keine richtig „gute“ Hexe, aber schon so gut, wie man es nur sein kann nach wenigen Tagen des Unterrichts beim Krampus.
„Da ist sie ja!“, ruft der Krampus. Er steht in der Tür. „Gut, dass du Sami mitgebracht hast. Er wird uns nützlich sein.“
Dann marschiert er los.
„Worauf wartet ihr?!“

Sie ganze Mannschaft hat sich auf dem Hügel hinter dem Haus versammelt. Brennende Fackeln säumen den Weg zum Treffpunkt. Dort stehen der Krampus und Mino, umringt von mehreren Vogelscheuchen, einem Zombie, einem Wolf, und einer Handvoll gedrungener, spinnenhafter Wesen. Der Wolf knurrt einmal drohend, als er Sami bemerkt, doch dann hebt der Krampus seinen Arm und die ganze Gesellschaft verstummt.
„Freunde!“, ruft der Krampus feierlich. „Mino hat in der Morgendämmerung einen Nachtschrat gesichtet!“
Ein Murmeln erhebt sich. Beffaná kann nicht sagen, ob es ein anerkennendes oder furchtsames Murmeln ist. Jedenfalls scheint es eine große Sache zu sein, denn Krampus, der seinem Sohn kaum bis zur Schulter reicht, schlägt ihm anerkennend auf den Rücken.
„Ihr wisst, was das bedeutet!“, ruft er. „Wir haben heute Nacht die einzigartige Gelegenheit, einen Nachtschrat zu fangen!“
Der Krampus beugt sich nach vorne, senkt die Stimme und die Umstehenden müssen nah an ihn herantreten, um ihn zu verstehen.
„Wenn der Nachtschrat in der Morgendämmerung sein Loch verlassen hat, dann kehrt er spätestens am Ende dieser Nacht in die Erde zurück. Bis dahin müssen wir ihn finden, oder die Gelegenheit ist für lange Zeit vorüber.“
„Was ist ein Nachtschrat?“, flüstert Beffaná Sami zu „Und warum ist die Gelegenheit dann vorüber?“
Doch statt Sami antwortet Mino, indem er sich an die gesamte Gruppe wendet.
„Nachtschrate leben jahrelang im Waldboden. Und nur in einer Nacht, alle zehn bis fünfzehn Jahre, graben sie sich aus und gehen auf die Jagd.“
„Was jagen sie denn?“, fragt Beffaná.
„Hauptsächlich Winterschläfer“, sagt Mino. „Tiere, die in ihren Höhlen, Löchern und Verstecken Winterruhe halten.“
„Und Müll“, sagt der Krampus. „Seitdem die Menschen sich breit gemacht haben, durchwühlen sie eigentlich meist Mülltonnen und Komposthaufen.“
„Okay…“ sagt Beffaná. „Und warum jagen wir sie dann?“
„Nachtschrate sind perfekte Botentiere“, sagt Mino. „Sie unterhalten ein weit verzweigtes Höhlensystem unter der Erde und können graben wie die Teufel. Es heißt, dass mit ihrer Hilfe schon Kriege gewonnen wurden, weil sie die entscheidenden Nachrichten hinter die Frontlinien geschmuggelt haben.“
„Wer einen Nachtschrat kontrolliert,“ ruft der Krampus, „kontrolliert das Land. Wer ein Dutzend Nachtschrate kontrolliert, kontrolliert die Welt! So lautet das Sprichwort!“
„Wie wär’s denn mal mit Keinen-Krieg-Führen und einfach mal anrufen statt unterirdische Spione zu schicken…?“, fragt Beffaná und der Krampus lacht.
„Beffaná, dem Nachschrat passiert schon nichts, versprochen. Und niemand will einen Krieg gewinnen. Es ist eine alte Tradition, ein edler Wettstreit und heute Nacht ist es auch deine Prüfung!“

Erst nach und nach versteht Beffaná den ganzen Rambazamba. Die Nachtschratjagd ist eine große Sache in gewissen Teilen der Hexengemeinschaft. Denn sie zu aufzuspüren und zu fangen ist eine große Leistung. Nachtschrate sind über der Erde eher gemächlich unterwegs, doch sind sie Meister der Tarnung und bewegen sich ausschließlich in der Dunkelheit. Außerdem verfügen sie über ein gewisses Maß an magischen Kräften. So sind Jagdhunde wie Sami erst in der Lage, ihre Witterung aufzunehmen, wenn sie direkt neben dem Schrat stehen. Und Nachtschrate besitzen die Fähigkeit, gegen sie verwendete Zauber umzukehren. Daher werden sie entweder ohne den Einsatz von Hexerei gejagt oder mindestens zu zweit, denn ein Schrat kann nicht zwei Zauber zugleich abwehren.

„Heute Nacht“, verkündet der Krampus, „gibt es eine Treibjagd. Wir teilen uns auf und das Ziel ist, den Schrat in Richtung von Beffaná und Mino zu treiben. Halt dich dicht bei Mino, Beffaná, er hat schon eine Jagd als Treiber mitgemacht. Und er kennt die alten Jagdberichte. Trotzdem: Verlass dich nicht nur auf ihn. Sieh es als eine wichtige Prüfung an.“
„Was ist mit Sami?“, fragt Beffaná. „Kann er während der Jagd bei mir bleiben?“
„Nein“, sagt Sami. „Wenn das deine Prüfung ist, dann werde ich den Treibern zugeteilt.“ Er reibt sich ein letztes Mal an ihrem Hosenbein und trottet zu dem mächtigen Wolf hinüber.
„Platz da!“, blafft er kurz und zu Beffanás Verwunderung trippelt der Wolf ein paar Schritte zur Seite.
Der Krampus reicht Beffaná und Mino ein langes Lederband.
„Einer von euch wird am Ende dieser Jagd mit dem Nachschrat an der Leine zum Festplatz zurückkehren. Arbeitet zusammen, nicht gegeneinander. Und jetzt Weidmannsheil!“

Es ist stockdunkel im Wald. Vom Waldrand her klingt das monotone Schlagen der Trommeln der Treiber und hin und wieder meint Beffaná, einen fernen Schein der Fackeln zu erkennen. Mino neben ihr hat sich ins Laub gehockt.
„Es bringt nichts“, flüstert er, „ziellos im Wald herumzulaufen, wenn man eh nichts sieht.“
Im Schein einer kleinen Taschenlampe hat er Köder ausgelegt. Denn der Nachtschrat, so hat er Beffaná erklärt, hat nur diese eine Nacht, um Fleisch zu fressen. Selbst auf der Flucht ist der Instinkt so stark, dass er davon getrieben wird.“
„Kann er denn auch für uns gefährlich werden?“ wispert Beffaná.
„Nicht solange du keinen unvorsichtigen Zauber gegen ihn anwendest. Er ist nicht sehr groß, seine Beutetiere sind selten größer als ein Kaninchen.“
Sie warten. Mehrere Stunden warten sie, horchen immer wieder in den Wald hinein, auf die weit entfernten Trommeln und das Knacken der Zweige um sie herum. Zum Glück ist es heute Nacht sehr mild. Wie muss sich eine Jagd erst bei Minusgraden anfühlen, denkt sich Beffaná. Ganz ohne wärmendes Lagerfeuer und ohne, dass man sich viel bewegen darf. Es muss bereits nach Mitternacht sein, als sie Geräusche hören. Auf sie zukommendes Rascheln im Laub und knackende Zweige, doch dann hört Beffaná eine wohlbekannte Stimme in ihrem Kopf.
„Ich bin’s, Sami!“
„Was bringst du für Neuigkeiten?“ Das war Mino. Es ist seltsam, ihn in ihrem Kopf zu hören. Beffaná würde gerne etwas sagen, aber diese Telepathie-Geschichte, die klappt noch nicht gut bei ihr.
„Er ist uns entwischt!“, sagt Sami. „Wir haben versucht ihn einzukesseln und dann gezielt in eure Richtung entkommen zu lassen, aber der Kessel war leer!“
„Und was jetzt?“ Beffaná flüstert so leise, wie sie nur kann.
„Er scheint die Totköder abzulehnen“, sagt Sami. „Vor zwei Stunden, da hatten wir ihn fast und die Vogelscheuchen haben einen Versuch mit Totködern gemacht. Er ist einfach daran vorbeigehuscht.“
„Ja, das kommt vor“, sagt Mino. „Bei älteren Exemplaren, die schon mal erfolgreich einer Jagd entkommen sind. Die Dinger sind schlau, die merken sich sowas. Habt ihr lebendige Köder probiert?“
Beffaná schüttelt sich. „Was soll das denn heißen?“ wispert sie.
„Mäuse und so“, sagt Sami. „Ja, haben wir. Aber sie sind weg. Entweder war die Falle kaputt oder er hat sie rausgeholt, ohne das wir’s gemerkt haben. Der Krampus meint, dass ihr zum Haus zurückkehren sollt. Alte Nachtschrate sind nicht ungefährlich. Außerdem sind sie nur schwer als Boten abzurichten.“
„Ich werde meine erste eigene Jagd nicht so beenden“, sagt Mino. „Du etwa, Hexenschülerin?“
„Nein“, flüstert Beffaná, obwohl sie mit Schaudern an die beiden verschwundenen Mäuse denken muss. „Ich hab sogar eine Idee, wie wir ihn in die Falle locken.

Der Plan ist simpel. Wenn der Schrat keine Totköder schluckt, und es keinen Lebendköder mehr gibt, dann gilt es eben, neue Köder zu finden. Und Beffaná hat sie bereits gefunden.
„Stein, Schere, Papier“, flüstert sie. „Wer gewinnt, spielt den Köder.“
„Wirklich schlau!“ ruft Mino in ihrem Kopf. „Und der andere muss nur dafür sorgen, dass das Biest an der Leine hängt, bevor es zugeschnappt hat.“
„Seit ihr wahnsinnig?!“ telepathiert Sami, doch Mino ist bereits an seinem Ohr. „Wir flüstern Sami unsere Wahl zu, dann kann’s kein Schummeln geben. Ich fang an.“
Als Beffaná an der Reihe ist und Sami ein „Stein“ zuflüstert, ist es eine Weile lang totenstill. Dann hört sie ein „Beffaná“ in ihrem Kopf. „Mino hatte Schere.“
Die Sache ist kniffelig. Das Verwandeln einer Person in ein Tier ist nicht ganz ohne, aber das größere Problem ist, dass eine verwandelte Hexe nicht zaubern kann, zumindest ginge das über Minos und Beffanás Fähigkeiten hinaus. Beffaná ist also wehrlos, sobald sie der Köder ist.
„Was soll’s denn sein, Beffaná?“
„Maus“, sagt sie und schluckt. Es wird ernst.
Mino macht kurzen Prozess und Beffaná schließt bei seinem Zauberspruch die Augen.
„Beffaná!“ hört sie Sami bellen.
„Sei doch leiser!“ zischt sie ihn an und als sie ihre Augen öffnet, erkennt sie in der Dunkelheit, wie der Sami-Schatten wild um sie herumspringt und die Zähne fletscht. Es hat nicht funktioniert, sie hat nach wie vor menschliche Gestalt. Dafür ist Mino verschwunden. ‚Gönnt dieser Mistkerl mir nicht mal dieses bisschen Spaß?‘, denkt sie noch, als sie es in ein paar Metern Entfernung zischen hört.
Sami bellt: „Mino! Der Schrat hat den Zauber gegen ihn gerichtet! Ich rieche ihn, der Nachtschrat ist ganz nah und Mino ist in Gefahr!“
„Hellste Sonne, heißer Stern!, denkt Beffaná und kneift die Augen zu, so geblendet ist sie vom Licht ihres Zaubers. Da sieht sie ihn, den Nachtschrat, sieht, wie die gelben Augen kurz aus dem Unterholz zu ihr herüber starren und er dann zum Sprung ansetzt auf eine kleine Maus, die zwischen ihnen im Laub hockt. Irgendetwas fiepst in Beffanás Kopf, doch sie wischt es weg und handelt wie in Trance. ‚Zauber gegen ihn gerichtet!“ schreit es in ihr. „Er kehrt die Zauber um! Die Spielplatzgeschichte, erinnerst du dich?!“ Das ist es!
„Sorry, Sami!“, ruft Beffaná, doch sie hat es stumm gemacht, direkt in seinem Kopf. Dann schleudert sie mit einer unsichtbaren Kraft den kleinen Hund hoch durch die Luft direkt auf den Nachtschrat. „Du schlaue Hexe!“ fiepst es in ihrem Kopf und dann liegt Sami völlig benommen auf dem ausgeknockten Schrat.

Die Ankunft auf dem Festplatz ist ein regelrechter Triumphzug. Den grummelnden Schrat an der Leine werden Beffaná, Mino und der immer noch leicht wackelige Sami von den Treibern empfangen.
„Sie hat den Spitz als Wurfgeschoss verwendet“, erklärt Mino seinem Vater, der Beffaná anerkennend auf die Schulter klopft.
„Indirekter Zauber“, lobt der Krampus. „Ich sag ja, ich mag deinen Stil, Beffaná! Und du Mino, hast wirklich Glück gehabt. Das war ein Anfängerfehler! Du hättest erst Sami losschicken müssen, um den Zauberort abzusichern!“
„Ja, Vater“, sagt Mino mit gesenktem Kopf.
„Bring den Schrat in den Keller“, sagt der Krampus streng. „Und jetzt wird gefeiert!“

Es wird eine lange Nacht und Beffaná kehrt zusammen mit Sami erst kurz vor dem Morgengrauen zurück nach Hause. Im Bus begegnet sie bereits den ersten Pendlern, die zur Arbeit fahren. Ihr Kopf ist voller wirrer Gedanken, voller Stimmen und Gesänge, als sie schließlich in ihr Zimmer schlüpft und die Doppelgänger-Beffaná weckt.
„Wie war deine Prüfung?“ fragt Esmeralda schlaftrunken und Beffaná hebt nur einen Daumen in die Luft.
„Kindchen, du musst in einer Stunde wieder raus!“ murmelt Esmeralda. „Wir müssen wirklich etwas an deinem Schlafrhythmus ändern, das hältst du ja nicht lange aus.“
Beffaná sinkt auf ihr Bett und zuckt mit den Schultern.
„Nein, warte, steh auf!“ flüstert Esmeralda. „Schnapp dir Sami, geht runter in meine Wohnung und schlaf dich aus. Ich regel‘ das mit der Schule.“
Beffaná will protestieren, aber eigentlich ist sie viel zu müde und viel zu dankbar für die Aussicht auf einige Stunden Schlaf. Und tatsächlich, Doppelgänger-Beffaná macht ihre Sache wirklich gut. Niemand, weder Anil noch die Lehrer, bemerken etwas. Nur zu dem Treffen mit Jessie taucht niemand auf, weil Esmeralda alias Beffaná längst wieder im Bus nach Hause sitzt und als die echte Beffaná nachmittags in Esmeraldas Wasserbett aufwacht, ist das ihr allererster Gedanke.
„Oh nein! Potzblitz!!!“

Beffaná (St. 5, Kap. 14): Jagdfieber
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