Beffaná denkt nach. Sie hat keine Lust sich mit Sami zu unterhalten und der Hund trottet mit hängenden Ohren auf dem Rückweg von der Schule neben ihr her. Zwischendurch bleibt Beffaná stehen, hebt eine alte Kastanie vom Straßenrand auf und betrachtet sie lange.
„Was ist damit?“ fragt Sami. „Riecht nicht sehr besonders, finde ich.“
„Nein“, sagt Beffaná. „Ich weiß es nicht. Es ist nur ein Gefühl.“
Sie riecht an der Kastanie, reibt daran herum, grübelt, und wirft sie schließlich schulterzuckend in einem großen Bogen weg. Erst, als die Kastanie ihre Hand verlassen hat, merkt sie, dass das eine wirklich dämliche Idee war. Die Flugbahn der Kastanie endet direkt auf der großen Straße, auf der an einem Freitagnachmittag dichter Verkehr herrscht.
‚Verdammt!‘ denkt sie, ‚Nicht auf die Straße! Flieg noch ein bisschen weiter… Bitte…!‘
Und sie hat Glück, das Geschoss bleibt länger in der Luft, als sie gedacht hat und landet knapp hinter der Straße in der Böschung. Fast könnte man denken, die Kastanie habe einen kurzen Hopser in der Luft gemacht, um nicht auf einem der fahrenden Autos zu landen.

„Ist was?“ fragt Sami.
„Ich frage mich“, sagt Beffaná, „wie er das gemacht hat. Mit Papa. Ist das echte Zauberei?“
Ihr Vater war erst spät in der Nacht nach Hause gekommen, sogar noch später als Beffaná und Sami. Sie konnte ihn aus ihrem Bett hören, wie er sich kichernd verabschiedete. Und heute Morgen hatten sie beide fast kein Wort verloren, beide tief in ihren Gedanken versunken.
„Du meinst den Krampus?“ sagt Sami.
„Ist doch praktisch, dass Jacob und Papa diese verrückten Verabredungen hatten.“
„Finde ich auch“, sagt Sami. „Spielen wir Stadt, Land, Fluss?“
„Du hast beim letzten Mal nicht ein einziges Land mit F gewusst! Das macht keinen Spaß!“
„Ich kann schließlich nicht alle blöden Menschenländer kennen!“ Sami schnaubt. „In Flüssen bin ich besser.“
„FINNLAND, Sami! Dir ist FINNLAND nicht eingefallen!“
„Finnland, irgendwas war damit, oder?“
„Du bist ein FINNISCHER Spitz, Du Eumel! Deine Rasse wurde nach Finnland benannt!“
„Das sind doch alles nur Menschennamen!“ bellt Sami. „Wir Hunde nennen uns ganz anders!“
„Wie denn?“
„Suomenpystykorva!“
„Ja, du Held! Das heißt ‚Finnischer Spitz‘! Auf Finnisch!“
„Ich kann Flüsse trotzdem besser“, mault Sami.
„Okay, dann los. Flüsse mit R.“
„Easy: Rinnsal, rauschender Bach, reißender Strom, Rumpelfluss, Rudolf, Renate…“
„Rudolf? Hä? Und was soll das sein, ein Rumpelfluss?“
„Na, ein Fluss! Der rumpelt!“
„Gibt’s doch gar nicht!“
„Sagt wer? Als würdest du alle Flüsse kennen!“
„Ich kann’s dir gleich im Atlas zeigen, wenn Du Wert drauf legst!“
„In einem Menschenatlas, vielleicht! Ja, Kunststück! Unsere Hundeatlas-Dingsis sind voller Rumpelflüsse und Renates! Bei uns heißt jeder zweite Fluss Renate!“
„Aber das macht doch überhaupt keinen Sinn!“
„Hä? Und du bist in ein Arschloch verliebt, dass dich grad mal mit dem Hintern anguckt! Das macht auch keinen Sinn!“
Das hat gegessen.
Beffaná tritt mit voller Wucht vor einen Stein, der mit Karacho mitten auf die Straße fliegt. Zum Glück ist grad kein Auto da, denn der hätte genau gepasst.

Zuhause wird weiterhin geschwiegen. Inzwischen ist Jacob zurück von seiner Übernachtungsparty, doch statt wie sonst alles haarklein zu erzählen, schleicht er übellaunig in der Wohnung herum. Ähnlich ihr Vater. Der stellt den Kindern nur das Essen hin und verzieht sich schnell in sein Arbeitszimmer, das eigentlich sein Schlafzimmer ist. Beffaná hatte heute keine Lust auf das Versteckspiel mit Sami in der Wohnung und hat ihn draußen vor dem Haus gelassen. Nur bis zur Schlafenszeit, verspricht sie, und stellt ihm eine Dose Hundefutter hinter’s Haus, die sie auf dem Rückweg in einem Supermarkt gekauft hat. Zwischendurch versucht Beffaná ihre Freundin Jessie zu erreichen, aber bei ihr zuhause geht niemand ans Telefon.
‚Es ist wie verhext. Und alles Mist!‘ denkt sie und irgendwie freut sie sich, dass sie heute Abend wieder hier raus und in das Haus vom Krampus gehen kann. Doch Halt! Das ist vollkommener Blödsinn. Sie kann auch heute Abend nicht so einfach raus und eigentlich will sie ja auch gar nicht, denkt sie, sie hat bis jetzt nicht so richtig verstanden, was sie da gemacht hat, gestern, und warum. Und: Schickt ihr der Krampus, denn sie ist überzeugt davon, dass es der Krampus war, schickt er ihr heute wieder einen riesenhaften Köter, der ihren Vater zu Gottweißwas mitnimmt? Nein, das tut er nicht. Die Wohnungsklingel bleibt tatsächlich bis zum Abend stumm. Und als sie zum Abendessen in die Küche kommt, lächelt ihr Vater sie milde an.
„Ist schon okay“, sagt er. „Du darfst.“
„Ach ja?“ Wär ziemlich hilfreich, denkt sie, wenn man wüsste, wovon Papa eigentlich redet.
„Klar.“ Ihr Vater steht von seinem Stuhl auf und nimmt Beffaná in den Arm. „Ich weiß ja, wenn du bei Jessie bist, ,uns ich mir keine Sorgen machen. Ich hab mich ehrlich gesagt schon ein bisschen gewundert, dass ihr in letzter Zeit so wenig zusammen unternehmt.“
„Ach… ja…“ Beffana´ schaut wohl ein bisschen dämlich au der Wäsche, jedenfalls fuchtelt Jacob hinter Papas Rüchen mit beiden Händen hektisch in Richtung der Küchenablage, beziehungsweise, eines Zettels, der dort liegt.“
„Was… ähm…“ stammelt Beffaná. „Ich meine, warum, ähm… darf ich denn jetzt, also…“
„Ich muss dir danken“, sagt ihr Vater. Er sagt es fast ein bisschen feierlich. „Wirklich, Dein Brief hat mir die Augen geöffnet. Schließlich ist die ganze Situation für dich nicht einfach. Das verstehe ich. Verstehe ich jetzt besser, meine ich. Manchmal vergisst man als Erwachsener, was es bedeutet, reifer, nun, irgendwie, also, was es bedeutet, groß zu werden. Verstehst du? Eines Morgens aufzuwachen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Mit diesem neuen Hunger auf… wie soll ich sagen, auf Leben, und Erfahrungen, und, nun ja, wahrscheinlich auch auf eigene Fehler. Ergibt das Sinn? Du hast das einfach so viel besser formuliert in Deinem Brief. Er hat mich sehr nachdenklich gemacht, aber auch sehr stolz…“
Hinter seinem Rücken steckt Jacob sich einen Finger in den Hals und tut so, als würde er sich selbst nach Art eines Samurais erdolchen. Beffana´ verkneift sich irgendwie ein Lachen, aber als Jacob anfängt, leise Furzgeräusche zu machen, springst Beffaná schnell auf und dreht ihr Gesicht von ihrem Vater weg.
„Danke, Papa, kann ich, also darf ich meinen Brief noch mal kurz mitnehmen, ich wollte das noch, also ich wollte da noch über was wichtiges Nachdenken.“
„Na klar, meine Grüße“, sagt ihr Vater. „Aber beeil Dich, du wolltest doch um halb acht bei Jessie sein.“
„Ja, nee, ist klar…“
Jacob ist gerade dabei, sich zum dritten Mal hinter dem Rücken ihres Vaters zu erhängen und guckt dabei wie Spongebob, wenn der einen Amboss auf den Kopf bekommt.
Beffaná schafft es gerade noch in ihr Zimmer, bevor sie losprustet.

Der Brief ist furchtbar!
„Was für eine schwülstige Kacke!“ flucht Beffaná. Was auch immer der Krampus beim Schreiben genommen hat, er muss dringend damit aufhören! Okay, es scheint bei ihrem Vater irgendeinen Nerv getroffen zu haben, aber ‚erwachende Knospe meiner Jugend‘?! Der hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun! Und sind das neben ihrer Unterschrift (die übrigens wirklich aussieht wie ihre) echte Tränen? Beffaná befühlt das Papier und riecht schließlich daran. Und da…: Das kann doch nicht wahr sein! HUNDEFUTTER! ‚Du mieses Stück Fell!‘ schnaubt sie, ’na warte!‘ In Windeseile zieht Beffaná sich an, packt zur Tarnung einen Rucksack mit Zahnbürste und Schlafzeug ein und stürmt mit einem „Tschüß Papa, bis Morgen!“ zur Tür.

Ihre Wut macht Beffaná irgendwie widerstandsfähig gegen die seltsame, geistige Vernebelung von gestern. Mit Sami auf dem Schoß sitzt sie im Bus in Richtung Endstation, nachdem sie ihn am verabredeten Treffpunkt hinter’m Haus abgeholt hat. Sie hat noch nicht entschieden, wie sie ihn mit ihrer Entdeckung konfrontieren soll. Dass er hinter dem ganzen Hokuspokus steckt. Aber es ist ja auch ganz logisch! Nur ein Hund kommt doch auf die hanebüchene Idee, ihren Vater mit einer Bulldogge zu verabreden! Aber wie hat er das gemacht? Hat er Zauberkräfte? Oder ist er ein Hypnotiseur ? Das kann nicht sein, Sami hat ihrn Vater ja nie angeschaut. Er ist nicht mal in seiner Nähe gekommen. Wahrscheinlich hat der Krampus ihm ein paar seiner Tricks beigebracht, um Beffaná immer wieder in den Wald zu locken. Sami auf ihrem Schoß scheint zwar zu merken, dass irgendwas nicht stimmt, aber hier im Bus kann er nicht fragen. Und dann im Wald tut Beffaná so, als wäre sie in Gedanken. Beim Krampus angekommen, überfällt sie allerdings augenblicklich ein ähnliches Gefühl wie beim ersten Mal. Eigentlich, hatte sie sich im Bus überlegt, wollte sie die beiden, den Krampus und Sami, sofort zur Rede stellen, ihnen sagen, wie schäbig sie es findet, dass Sami ein doppeltes Spiel mit ihr spielt. Aber dieses Vorsatz verfliegt, sobald der Krampus die Haustür geöffnet hat. Tiefe, warme Schwärze, Flüstern, die Augen des Krampus, das ist alles, an das sich Beffaná erinnert und, vielleicht, vielleicht ein leises Gemurmel um sie herum. Andere Stimmen? Andere Menschen? Sami kann es nicht sein, ihn haben sie in der Küche zurückgelassen, dem einzigen Raum in diesem Haus, den Beffaná bisher bei Tageslicht gesehen hat. Irgendwann, in einer Pause, oder auch am Schluss des Treffens, da ist sie sich im Nachhinein nicht sicher, wird Beffaná Zeugin, wie der Krampus in der Küche seltsam aussehendes Wesen empfängt. Nicht Menschen. Wesen. Geflügelte. Behufte, Gehörnte. Wesen mit zwei Köpfen und zum Schluss etwas, das aussieht, wie Beffaná sich in etwa einen Zombie vorstellt. Er trägt viel zu weite Kleidung, die um seinen völlig abgemagerten Körper schlackert, und irgendwann, doch das muss eine Täuschung sein, verliert er einen Finger auf dem Boden. Beffaná versteht nichts von dem, was der Krampus mit den Wesen bespricht. Doch es wirkt, als würden sie ihm Bericht erstatten und mit neuen Aufträgen wieder fortgeschickt und als sie sich anstrengt, mehr zu verstehen oder durch den Nebel ihres Geistes zu sehen, da sitzt sie schon mit Sami im Bus. Dieses Mal ist es bereits morgens. Die Sonne kriecht hinter den Wipfeln des Waldes in ihrem Rücken hervor und Beffaná ist so müde, dass sie während der Fahrt mehrmals einnickt. Erst zuhause im achten Stock, kommt sie wieder einigermaßen zu sich, gerade genug, um ihren erstaunten Vater zu begrüßen, der noch im Schlafanzug an der Kaffeemaschine steht.
„Beffaná! Du bist aber früh!“
„Wir haben die ganze Nacht gequatscht“, sagt Beffaná, und das ist streng genommen nicht einmal gelogen. „Sei mir nicht böse, Papa, aber ich muss dringend noch ein bisschen Schlaf nachholen.
„Ist ja Samstag“, sagt ihr Vater. „Ab ins Bett mit Dir!“
Benommen taumelt Beffaná in ihr Zimmer. Sami! Richtig, sie hat ihn mit nach oben genommen und irgendwie ins Zimmer geschmuggelt. Jedenfalls steht er erbost vor dem Adventsstrauch und funkelt ihn böse an.
„Es geht nicht, Beffaná! Ich hab mir ganz genau den Spruch gemerkt, aber ich kann’s nicht!“
„Der Spruch ist egal“, murmelt Beffaná. Wollte sie den Hund nicht eigentlich zur Rede stellen? Ja, vielleicht. Nachdem sie ein bisschen geschlafen hat.
„Wie, der Spruch ist egal?“ fragt Sami.
„Ich kann sagen, was ich will. Mit dem Spruch ist es nur schöner. Hier, Bonsai, mach die Blüte auf, du Strauch! Potz-dings.“
Und während sich 5 Weidenkätzchen öffnen, legt Beffaná den Finger eines Zombies auf den Nachttisch und schläft sofort ein.

Beffaná (St. 5, Kap. 5): Doppeltes Spiel
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