Wie ein Häufchen Elend sitzt die alte Dame auf dem Barhocker eines Döner-Grills, rührt in ihrem Tee und starrt aus dem Fenster. Beffaná hat sie kurzerhand in den nächsten Laden bugsiert, in dem auch Hunde erlaubt sind. Es ist brechend voll, sie haben nur noch Plätze nebeneinander mit Blick aus dem Fenster bekommen. Beffaná ist sehr erschöpft. Das, was eben da draußen geschehen ist, kommt erst nach und nach in ihrem Kopf an. Zum Glück hat Sami sie wiedergefunden, nachdem alles wieder anfing, sich normal zu bewegen. Doch was heißt schon, normal. Gar nichts ist mehr normal.
„Es war nie… normal“, murmelt Frau Schniggenfittich. Offenbar hat Beffaná ihre letzten Gedanken laut ausgesprochen. Sami ist auf Beffanás Schoß gesprungen und funkelt die Alte an:
„Das war wirklich dumm!“ zischt er leise, damit niemand um sie herum aufmerksam wird auf den sprechenden Hund.
„Du hast kein Recht zu beurteilen, was dumm ist und was nicht!“ zischt Frau Schniggenfittich zurück. Dann sinkt sie in sich zusammen. „Aber ja. Es war dumm. Wir waren alle dumm, sehr, sehr lange.“
„Du wolltest ja nicht hören!“ schnauzt Sami etwas zu laut und ein Kind am Nachbartisch stupst mit offenem Mund seinen Vater an. Sami duckt sich in Beffanás Schoß.
„Der Krampus hat es schon lange geahnt.“ Der Hund hat sein Maul nicht bewegt, aber Beffaná versteht ihn laut und deutlich. „Jetzt hat er die Sache eben selbst in die Hand genommen!“
„Er will sie nur für seine ‚Mission‘ einspannen! Das hätte Lea niemals zugelassen!“
Auch Frau Schniggenfittichs Lippen bleiben geschlossen. Wie kann das sein, was ist das? Gedankenübertragung?
„Möglichst nicht“, ertönt Frau Schniggenfittichs Stimme jetzt in Beffanás Kopf. „Aber das lernst du noch. Eine geübte Hexe kann sehr genau entscheiden, was die anderen hören sollen und was nicht.“
„Sprecht wieder normal mit mir!“ flüstert Beffaná. „Oder ich lass den ganzen Laden hier erstarren und euch gleich mit!“ Obwohl sie keinem Schimmer hat, wie sie das noch mal hinkriegen soll.
„Und redet MIT mir und nicht über mich! Himmel, wann lernt ihr Erwachsenen das endlich?“
„Sorry“, murmelt Sami.
„Entschuldigung“, sagt Frau Schniggenfittich.
„Also, ganz von Anfang an“, sagt Beffaná. „Lea ist meine Mutter. Die meinten Sie doch?“
Frau Schniggenfittich nickt.
„WAS hätte meine Mutter niemals zugelassen?“
„Das alles“, sagt Frau Schniggenfittich. „Sie wollte, dass du ganz normal aufwächst. Ohne den ganzen Hokus-Pokus.“
„Hokuspokus!“ höhnt Sami mit unterdrückter Stimme. „Und das von einer Wetterhexe! Dein ganzer Berufsstand ist doch nix anderes als Hokuspokus mit Blitz und Donner!“
„Ich hab es Lea und Anil geschworen!“ ruft Frau Schniggenfittich.
„Hui, wie beeindruckend! GESCHWORDEN!“ erwidert Sami, erneut viel zu laut.
Das Kind am Nebentisch schaut wieder zu ihnen herüber.
„Papa, ich sag’s doch, der kleine süße Hund kann sprechen!“
„Hört endlich auf, ÜBER mich zu reden. Ich bin hier, direkt vor euch!“
Beffaná ist aufgesprungen und Sami muss sich mit einem halsbrecherischen Sprung auf den Tisch retten. Was für ein kurioser Anblick! Doch niemand achtet auf ihn. Niemand achtet auf irgendwas, denn wie bereits zuvor ist alles um sie herum wie zu Eis erstarrt.
„Beffaná, du solltest dir ein anderes Hobby suchen, das hier ist ein bisschen auffällig.“
Sami deutet mit dem Kopf auf die Straße vor dem Fenster. Während hier drin alles aussieht, als würde der ganze Laden Stop-Hexe spielen, geht draußen das normale Leben weiter. Die ersten Menschen bleiben vor dem Fenster stehen und schauen hinein.
„Esmeralda, könntest Du bitte…“ sagt Sami genervt und Frau Schniggenfittich hebt beiläufig einen Arm. Eine lässige Handbewegung und es beginnt draußen wie aus Kübeln zu regnen. Die Passanten nehmen Reißaus.
„Kontrollierst du das?“ fragt Sami Beffaná, „Oder sind das einfach Zufallstreffer?“
Beffaná kann sich vor Erschöpfung kaum auf ihrem Stuhl halten.
„Ich hab keine Ahnung. Es passiert einfach. Könnt ihr mir jetzt endlich erzählen, was los ist?“

Esmeralda Schniggenfittich ist, besser war eine alte Freundin ihrer Mutter, das erfährt Beffaná eine halbe Stunde später, als sie alle zusammen in Frau Schniggenfittichs „Guter Stube“ sitzen, wie sie es nennt. Überall steht sehr häßlicher Deko-Krimskrams herum, auf den sich Beffaná zunächst keinen Reim machen kann. Dann bemerkt sie, dass alle Figürchen, Bilder, Tassen, Deckchen, Aschenbecher und Dosen irgendetwas mit blauem Himmel und Sonne zu tun haben.
„Immer wenn ich rausgehe, ziehen Wolken auf“, sagt Frau Schniggenfittich, „da kann ich nichts tun. Du hättest mal meinen Mallorca-Urlaub erleben müssen. Eigentlich ein Riesenspaß, aber ich glaube, für die anderen nicht so wirklich. Und machmal würd ich ja auch gerne mal am Strand liegen und mir die Sonne auf den Pelz scheinen lassen.“
Dann kommen sie wieder zum Thema.
„Deine Mutter, Beffaná, wollte das alles von Dir fernhalten. Und kurz bevor sie dann gestorben ist, hat sie mich gebeten, dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt.“
Beffaná erinnert sich an sie. Ganz schwach. Obwohl sie damals schon zur Schule ging, in die erste Klasse. Sie hat sich häufig gefragt, warum sie eigentlich nur noch so wenig von damals weiß. Beffaná fragt sich, warum sie vorher nie mehr als ein paar Worte mit Frau Schniggenfittich gewechselt hat, wenn sie und ihre Mutter doch Freundinnen gewesen sind.
„Das ist kompliziert“, sagt Frau Schniggenfittich. Offenbar hat sie wieder Gedanken gelesen. „Und nenn mich doch Esmeralda.“
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden und aus ein paar Wohnungen im Nachbarhaus funkelt die Weihnachtsbeleuchtung in die schwach beleuchtete Gute Stube von Esmeralda Schniggenfittich.
„Beffaná“, sagt Sami vorsichtig. „Ich weiß, dass ich bei dir was gutzumachen habe, aber es ist dunkel. Und noch einen Abend kannst du wirklich nicht schwänzen.“
Bevor Beffaná antworten kann, setzt sich ein großer Rabe auf dem Sims von Esmeraldas Wohnzimmerfenster. Und dann noch einer. Beide schauen stumm direkt zu ihnen ins Zimmer.
„Der Krampus sagt, es ist Zeit“, murmelt Sami.
„Ich hab’s versucht zu verhindern!“ stöhnt Esmeralda. „Als ich gemerkt hab, dass sie dich beobachten, also, dass er dich beobachtet“, sie deutet auf Sami, „da hab ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit sie dich in Ruhe lassen. Ich hab es schließlich geschworen. Aber Krampus meint, es sei deine Entscheidung. Und da hat er irgendwie Recht. Ein Schwur darf niemals stärker sein als die freie Entscheidung einer Hexe.“
Einer Hexe… „Das ist alles so kompliziert“, ruft Beffaná. „Kann er mich denn zwingen, zu kommen?“
Sami lacht: „So ein Quatsch! In dieser Sache kann niemand zu irgendwas gezwungen werden. Aber Du hast Dich ja schon entschieden! Überleg doch mal! Was willst du tun? Nach oben gehen, Abendbrot essen und ins Bett. Oder willst du in den Wald, den Unterricht fortsetzen?“
Esmeralda schaut Beffaná eindringlich an und nickt dann schließlich.
„Er hat schon Recht. Zwingen kann dich langfristig niemand. Wobei…“, sie deutet auf ihr Fenster, an dem sich inzwischen mindestens zehn Raben dicht an dicht auf dem Sims draußen drängen, „Wobei sowas wie da draußen auch wirklich eine ganz billige Masche ist. Es ist deine Entscheidung Beffaná.“
„Ich möchte gehen“, sagt Beffaná. „Ich weiß nicht, warum, aber es fühlt sich so an, als müsste ich es tun. Und dann will ich es auch. Aber nur unter der Bedingung, Sami, dass ihr, dass du mich nie wieder anlügt und keine billigen Tricks mehr veranstaltet.“
Sami nickt. „Versprochen. Das Problem ist nur: Wie kriegen wir es sonst hin? Dein Vater wird dich kaum heute Abend gehen lassen.“
„Lasst mich das erledigen“, sagt Esmeralda. „Schauspielerin und Verwandlung sind zwar nicht meine großen Stärken, wie wir heute wieder gesehen haben, aber einen Abend einen muffeligen Teenager spielen, das krieg ich schon irgendwie hin.“
„Ja genau!“ ruft Beffaná. „Warum eigentlich? Warum hast du diese ganze Jessie-Nummer abgezogen?“
„Wegen des Buches“, sagt Esmeralda. „Weil ich wissen wollte, ob du es schon gelesen hast. Denn das ist wirklich wichtig, Beffaná. Lies es!“
„Also SOLLTE ich es klauen?“
„Es kam zumindest nicht ganz ungelegen…“
„Aber der Zettel!“ ruft Beffaná. „Von Joshua! Den hab ich doch von Dir! Warum hast du da mitgespielt?“
„Weil ich dachte, er ist von Joshua“, murmelt Esmeralda. „Ich bin doch selbst drauf reingefallen. Auf den da.“ Sie deutet auf Sami.
„Ich hab’s doch jetzt versprochen!“ bellt Sami. „Es kommt nicht wieder vor!“

Und damit nimmt der seltsamste Tag im bisherigen Leben der Beffaná Lea Grimm ein höchst seltsames Ende. Während sie zusammen mit Sami zur Busstation eilt, springt eine einigermaßen passabel ähnliche Doppelgängerin die Treppen hinauf und erzählt Anil Grimm oben im achten Stock von einem unbeschwerten Advents-Shopping-Tag mit Jessie, jener Jessie, die sich eigentlich seit Tagen mit einer seltsamen Form der Windpocken zu Hause zu Tode langweilt und sich wirklich schwer wundert, warum sie niemanden ihrer Klassenkameraden telefonisch erreicht. Und erst weit nach Mitternacht, um halb drei Uhr morgens, wird Doppelgänger-Beffaná, die im unbequemen Bett einer Teenagern kein Augen zubekommt, von der echten Beffaná abgelöst und darf hinunterschleichen zu ihrem geliebten Wasserbett. Die junge Beffaná aber, die sich wie immer an kaum etwas von ihrem Besuch beim Krampus erinnern kann, sprüht noch vor Energie. Also setzt sie sich mit Sami vor ihr Bett und fängt an, die Geschichte von Kaitus, dem Zauberer zu lesen. Die Geschichte eines jungen Tunichtguts und Unruhestifters, der erst nach und nach lernt, mit seinen Zauberkräften umzugehen. Und, Potzblitz, plötzlich wundert sich Beffaná gar nicht mehr darüber, wie leicht es ihr fällt, die siebte Weidenblüte ihres Adventskalenders zu öffnen, während Sami nur staunend daneben steht und die Ohren in die Luft stellt.

Beffaná (St. 5, Kap. 7): Das Versprechen der Esmeralda S.
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